von Uwe Hoering, Januar 2016
Nahrungsmittelkrise? Welche Nahrungsmittelkrise? Seit der Preisexplosion 2007/2008 sind die Weltmarktmarktpreise für Getreide, Milch und Fleisch deutlich gesunken, 2015 gegenüber dem Vorjahr allein um durchschnittlich 19 Prozent, wie die UN-Welternährungsorganisation FAO mitteilte. Stand der FAO-Index für die globalen Nahrungsmittelpreise 2011 bei knapp 2300 Punkten, so lag er Ende des vergangenen Jahres nur noch bei 154 Punkten.
Dafür gibt es viele Gründe: Die Agrarindustrie hat ihre Produktion hochgefahren, eine Folge sind volle Lager. Niedrige Energiepreise senken die Kosten für Treibstoff und Dünger. Die Nachfrage steigt weniger langsam als erwartet. Spekulanten halten sich aufgrund dieser Situation zurück. Zwar wird im OECD-FAO Agricultural Outlook 2015-2014 vom Sommer 2015 prognostiziert, dass Preise auch zukünftig höher bleiben werden als in den frühen 2000er Jahren, doch die Erwartungen dauerhaft hoher Nahrungsmittelpreise mussten zunächst korrigiert werden. Damit entfällt eine wichtige Rechtfertigung für die gegenwärtigen Konzepte der globalen Agrarpolitik.
Auf’s falsche Pferd gesetzt
Mit ihrem Weltentwicklungsbericht 2008 ‚Agriculture for Development’ hatte die Weltbank den „Agraroptimismus“ ausgerufen: Nachdem die Landwirtschaft in den Ländern des globalen Südens durch Regierungen und Entwicklungsorganisationen jahrzehntelang vernachlässigt wurde, weil einige wenige Produzenten wie Europa, die USA und in zunehmendem Umfang Länder wie Brasilien, Argentinien oder Thailand den Weltmarkt mit preiswerten Nahrungsmittel beherrschten, wurde der Agrarbereich als Zugpferd für wirtschaftliche Entwicklung, Armutsminderung und ländliche Entwicklung „wiederentdeckt“. Die Finanzkrise und die „Nahrungsmittelkrise“ 2007/2008, die weniger mit der Menge verfügbarer Nahrungsmittel, sondern eher mit spekulativen Interessen zu tun hatte, beschleunigte die Initiativen, Investitionen in den Agrarbereich zu fördern. Ein zentrales Argument dabei: höhere Agrarpreise würden das Interesse der Agrarindustrie wecken, in die Landwirtschaft in investieren.
Seither bemühen sich zahllose Organisationen wie das Weltwirtschaftsforum Davos mit einer „New Vision for Agriculture„ oder die G8-Initiative „New Alliance for Food Security and Nutrition in Africa„, günstige Investitionsbedingungen für privatwirtschaftliche Investoren zu schaffen, gerechtfertigt mit Ernährungssicherheit. Die „Wiederentdeckung der Landwirtschaft“ war in Wirklichkeit eine Wiederentdeckung der Agrarindustrie und die Einführung des Konzepts der Öffentlich-Privaten Partnerschaften (PPP)“ in die Agrarpolitik. Doch angesichts sinkender Preise sind die Gewinnaussichten für den Anbau von Nahrungsmitteln in den Ländern des globalen Südens erheblich gesunken – und damit das Interesse vieler Investoren. Lediglich große Plantagen für agrarindustrielle Rohstoffe wie Baumwolle, Kautschuk oder Palmöl versprechen noch Profit – folglich wird auch das Thema Land grabbing weiter akut bleiben.
Anstatt also die Krise zu nutzen, um die seit langem von Wissenschaft, bäuerlichen Organisationen und zivilgesellschaftlichen Entwicklungsorganisationen beispielsweise im sogenannten ‚Weltagrarbericht‘ geforderte Wende hin zur bäuerlichen Landwirtschaft zu nutzen, wurde auf ‚business as usual’ gesetzt – auf eine ‚Neue Grüne Revolution’ durch die industrielle Landwirtschaft. Doch mehr und mehr kommen Regierungen und Entwicklungsinstitutionen die ‚Partner’ für die notwendigen Investitionen in die Landwirtschaft abhanden. Die Förderung der Agrarindustrie lässt sich immer weniger mit Ernährungssicherheit und Armutsminderung rechtfertigen. Wenn es der nationalen und internationalen Agrarpolitik also ernst ist mit diesen Zielen, muss sie jetzt neue Wege der Förderung bäuerlicher Landwirtschaft finden – ohne auf potente Agrarinvestoren und den ‚trickle down’-Effekt einer „Integration“ bäuerlicher Betriebe in die Geschäftsstrategien der Konzerne aus Agrar- und Ernährungsindustrie zu warten.
Wende jetzt
Eine solche breite Förderung bäuerlicher Landwirtschaft ist auch wichtig, um zukünftige Preisausschläge und Auswirkungen auf die Ernährungssituation zu verringern, warnen FAO und OECD: „The growing role of a relatively small group of countries in supplying global markets with key commodities could increase market risks, including those associated with natural disasters or the use of disruptive trade measures.“ Eine vorausschauende Agrarpolitik braucht also jetzt dringender noch als zuvor andere Konzepte, deren Umsetzung durch die irrige Hoffnung, die Agrarindustrie werde die Probleme schon lösen, verhindert wurde und stattdessen wertvolle Ressourcen und Zeit verloren gegangen sind. Die aktuellen Preisentwicklungen sind ein weiterer Indikator dafür, dass es Ernährungssicherheit durch marktwirtschaftliche Liberalisierung und die Förderung agrarindustrieller Investitionen nicht geben wird.
Erschienen auf GLOBE SPOTTING